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Kaukasisch gerasst

„Das Zeitalter des Fortschritts und des Dampfes ist ein Zeitalter der Verbrechen, aber auch hoher, edler, menschenfreundlicher Bestrebungen.“ Aus der Einführung zur Schrift „Der Verbrecher“ von Cäsare Lombroso, 1887
Die Entwicklung der Technik beschleunigte die Entwicklung der Menschheit. Veränderte aber auch die Geschwindigkeit des Denkens und Handelns. Alles schien möglich. Zeitnah, über Kontinente hinweg, Grenzenlos. Telegraphen verbanden Metropolen, Ferne wurde kleiner und das Kleine größer. Der Blick in das Innere des Menschen wurde möglich. Strahlen erfassten Blutbahnen, Organe wurden gesichtet, alles pulste und flutete. Der Film bewegte Bilder und Bilder ließen die Zeit erstarren. Eine Starre, die den Körper zum Objekt der Begehrlichkeiten für die Wissenschaft frei werden ließ. Ritter von Purkyne hatte den eigenen Leib als Labor eingerichtet, zeigte Reizversuche an Muskeln und Nerven und lies Tiere Schmerzen ertragen, um unter die poröse Haut eines Körpers blicken zu können. P. will “an dem Beispiele des Auges und der Haut zeigen, wie der Arzt die einzelnen Organe des Körpers untersuchen müsse, um über ihr normales oder abnormes Verhalten ein ausreichend sicheres Urtheil zu gewinnen.” P. sucht die Ursache der Schwindelempfindung in Verschiebungen, Dehnungen, Zerrungen der Hirnmasse bei der gewaltsamen Rotation des Kopfes. “Die Zwangsbewegungen, die bei gewissen Hirnverletzungen an Thieren beobachtet wurden”, Im Stand nun, konnten die befreiten Bilder besser analysiert und enttarnt werden. Des Forschers Blick unter die Haut, wechselte von Perforation zur schmerzfreien Selektion der Probanden. Nur Tiere blieben Opfer in zweiter Instanz. Die Wissenschaft fand Ruhe in der Analyse, um Fehler besser zu enttarnen. Psychologische und physikalische Forschungen an Universitäten etablierten sich und ihre „Eroberungen“ wurden euphorisch in Besitz genommen. Noch wurden die gewonnen Daten nur erfasst und physisch verwaltet. Das Faktum zählte. Fakten, soweit sie sich messen ließen. Die Welt lud sich auf, zu einem idealen Gesamtkörper, der sich leicht in seine Charaktere, Eigenschaften und Prozesse zerlegen ließ.
Nun aber wurde die Überschreitung hin zur Messung des zuvor nicht Messbaren gewagt. Das empirische Experiment mit den Körperfunktionenhatte an den Extremitäten begonnen. Nun setzte man dort an, wo sich die Seele mit ihren Befindlichkeiten artikulierte. Der Wahnsinn und das Verbrechen, als Abweichung von der bürgerlichen Norm, konnte endlich mit Hilfe der Wissenschaft beschrieben und enttarnt werden. Jean-Martin Charcot und Paul Richert starteten ihre Studie zum Dämonischen und bebilderten das Abnorme zur neuen Ikonografie. Herr C. hat sich zum Ziel gesetzt, das Geheimnis der rätselhaften Krankheit Hysterie zu lüften. Seine Methode: die genaue Skizzierung, Dokumentation und Fotografie der einzelnen Phasen des hysterischen Anfalls. Unter seiner Regie gerät die Krankheit zu einem Schauspiel. Für die öffentlich zur Schaus gestellten Patientinnen – die mitunter auch perfekte Schauspielerinnen in ihrer Rolle als Hysterikerinnen waren – wurde eigens ein Amphitheater auf dem Gelände der Salpêtrière gebaut. Das Hospital machte Karriere. De la Salpêtrière in Paris, wurde zur bekanntesten psychiatrischen Anstalt Europas. Unter den Kranken herrschte eine strenge Hierarchie. Ganz unten vegetierten Alte, Bettlerinnen, Geschlechtskranke, Prostituierte, gescheiterte Selbstmörderinnen, Epileptikerinnen, Demente und chronisch Kranke im Dunkeln vor sich hin, ganz oben „paradierten die Stars“. Und Augustine ist der Star unter den Stars.

Augustine

Sie ist schön, ihre Anfälle verlaufen immer nach dem gleichen Muster. Und sie spielt mit. Ihre Anfälle scheinen sich unendlich oft zu wiederholen, immer nach dem gleichen Muster. Klinikfotografen dokumentieren die verschiedenen Ausprägungen ihrer Attacken mit zahlreichen Bildtafeln. Charcots Assistenzarzt Paul Richer, ein begabter Grafiker, skizziert insgesamt 68 verschiedene “Figuren”. “Weibliche Hölle” nennen die Pariser die Salpêtrière, eine “zweite Bastille”. Mit seinen Kerkern, Gummizellen und Wachtposten ist das Hospiz mehr Zuchthaus als Frauenheilanstalt. Bis zu 8000 Frauen sind “inhaftiert”. Eine Statistik des zuständigen Präfekten aus dem Jahr 1862 protokolliert das Elend zwischen den Mauern der Psychiatrie: ein Arzt für 500 Kranke, rund 250 Todesfälle im Jahr, eine Genesungsquote von unter zehn Prozent.

Herr Richter sieht die Schöne vibrieren

Lombroso passte in diese Welt. War es doch sein Ziel die Wissenschaft vom Menschen, als Anthropologie neu zu schreiben. Er propagierte das Messen dogmatisch und übertrieb durch subjektive Überhöhung und verfing sich nicht selten in den Wust seiner eigenen Zahlen. Nach eigenem Bekunden wäre Herr L. lieber Künstler geworden, am liebsten Dichter. Die Medizin nur ein Brotstudium. Die Wissenschaft langweilte und befremdet ihn. Erziehung zu sinnlosen gehorsam erschien ihm als „Vergewaltigung jeder Selbstständigkeit“. Ihn interessierte vielmehr die Abweichung von der Norm, als das Einschwören auf gebildete Mediokrität. Daher sind seine ersten Studien zur Forschung des Kretinismus. In bestimmten Regionen Italiens schien ihm diese Krankheit besonders auffällig. Er identifizierte verdorbenes Trinkwasser als Grund für die Missbildungen, was aber bei den Behörden auf wenig Verständnis stieß. Umgehend folgte der nächste Skandal. L., diagnostizierte in der Polenta verwendeten minderwertigen Mais, der als Hauptnahrung ländlicher Bevölkerung galt und zu viel Schadstoffe enthielt als Auslöser von Pellagra. Was sich als Irrtum herausstellte, aber er hatte im Kern die Krankheit als Mangelerscheinung richtig beschrieben. Über Umwege, Höhen und Tiefen als Militär und Direktor einer Irrenanstalt, machte er Karriere als Professor für Psychiatrie und gerichtliche Medizin und begründet die Lehre einer Kriminalanthropologie.
Einer der faszinierenden Autoren wurde im Herzen für L. der bedeutendste Dichter Italiens, Dante Alighieri. Mit seiner „göttlichen Komödie“ sah er Irrsinn und herausragendes künstlerisches Talent verschmolzen. „Beide bedingen sich einander“, mutmaßte Herr L. Auf Demokrit berufend, glaubte er nicht, „dass ein freier Geist und ein gesunder Verstand zum Dichten geeignet seien“ Herr L. las literarische Texte wie klinische Berichte und witterte in der Kunst „geniale Entartung“.

Herr L. wittert in der Kunst geniale Entartung

„wie überall alles mit bitterer Galle durchtränkt ist, ganz zu schweigen von den Leiden,
die der Mensch dem Menschen zufügt, wie etwa Verelendung, Gefangenschaft, Rufmord,
Verunglimpfung, Folter, Heimtücke, Verrat, Schmähungen, Streithändel und Betrügereien“
Erasmus von Rotterdam im „Das Lob der Torheit“ 1511

Dem Humanismus, der Aufklärung und dem wissenschaftlichen Fortschritt zum Trotz: 500 Jahre nach Herrn E., ist das Böse noch immer präsent auf der Welt. Die Ursachen dafür führen auf direktem Wege zur Beschäftigung empirisch fundierter Bestandsaufnahmen individueller Dispositionen und ein Hinterfragen sozialer und gesellschaftlicher Verhältnisse. 5000 Jahre Forschung und keine Antwort auf die Frage, ob sich im Hirn des Menschen bestimmte physiologische Merkmale finden lassen, die für die Entstehung von bösem Verhalten verantwortlich sind. Fest steht schon mal: Neuronen sind nicht böse. Aber, die Neurowissenschaft überprüft gerade im bildgebenden Verfahren die Hypothese: dass, „sich alle Hirne von Mördern in mindestens einer Determinante Hirnen aller Nicht-Mörder unterscheiden und das genau diese biologischen Abweichungen bedingen, dass jemand mordet.“ sagt Hans Joachim Markowitsch, Lehrstuhlinhaber für Physiologische Psychologie an der Universität Bielefeld. Neuste Forschungen, die an eine „Renaissance der Phrenologie“ glauben lassen. Einer Phrenologie, die sich auf den Arzt und Hirnanatom Franz Joseph Gall bezieht, der einen ursächlichen Zusammenhang, zwischen Schädelform und Größe bestimmter Hirnregionen auf die Charaktereigenschaften des Menschen zu klären versuchte. „Besonders ausgeprägte oder unterentwickelte Gehirnpartien“ so meinte Dr. Gall, „sind an der Schädeldecke als Buckel oder Vertiefung erkennbar“. Sein heute klar entlarvter irriger Weg der Phrenologie, hatte zu Galls Zeiten noch viele Verehrer. Selbst Goethe war von der Schädellehre angetan, konnte aber nicht verhindern, dass eines Tages an Galls Hörsaaltür geschrieben stand:

Hier lehrt ein leerer Schädel
Leere Schädel
Schädellehre

Einer der Gallschen Schädel

Johann Caspar Lavater, reformierter Pfarrer und 17 Jahre älter als Herr G, beschäftigte mit ähnlichen Zusammenhängen Rückschlüsse von Organ- und Körperformen auf die „Harmonie der moralischen und körperlichen Schönheit“ zu finden. Bezog sich dabei jedoch auf das Äußere von Schädelformen. Seine „Physiognomischen Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe“, lasen in der Oberfläche des Gesichtes. In seiner Physiognomik beschriebe er die Beobachtung eines solchen „in einem ersten Schritt spontan und simultan zu betrachten, um darauf hin einzelne Merkmale zu isolieren und zu abstrahieren“. Zusammengefast als Merksatz: „Je moralisch besser; desto schöner – Je moralisch schlimmer, desto hässlicher“.

G. motiviert Herrn Ernst Theodor Amadeus Hoffmann, sich im Selbstporträt zu "outen", indem er seine markante Stirnfalte als Beweis für seine mephistophelische Rachgier und Mordlust zu schreibt

Ein Jahr jünger als L. ist, Johann Friedrich Blumenbach. Ein naivglühender Rassentheoretiker und Begründer der Anthropologie. In seiner Schädelsammlung, über die Jahre auf 800 Stück angewachsen, versucht er Ordnung zu schaffen. Wider einer Präformationslehre, die die Entwicklung eines Lebewesens als reinen Wachstumsprozess beschreibt, sieht B. seine Forschung an den Objekten als Epigenese, das Lebewesen als „nachträgliche Entstehung“. Als Prozess der Umformung von Materie. B. war der Meinung, dass alle Lebewesen über einen „Bildungstrieb“ verfügen, der sie von den unbelebten Körpern unterscheidet und zur Fortpflanzung zwingt. In seiner Dissertation, aufbauend auf den Erkenntnissen in Carl von Linne und Immanuel Kants Schriften, schreibt B. „Von den verschiedenen Racen der Menschen“ vier „Varietäten“ des Menschen. Er geht, entgegen der populären Ansicht, dass jede „Race“ separat entstanden sei, davon aus, dass alle Eigenschaften der „Varietäten“ graduelle Übergänge aufweisen und dass es unmöglich sei, feste Grenzen zu ziehen. In seiner Systematik bildet die „weiße“ oder „kaukasische“ die Stammklasse. Er prägt den Begriff „kaukasisch“, als Bezeichnung europäischer Population, da in seiner „Selektion des Auswüchsigen“ der Schädel einer Georgierin in „Harmonie und Wertglanz“ aus seiner Sammlung hervorstach. Heißt, die „edelste Rasse“, die Kaukasische, im Ausschließungsverfahren zur Stammrasse erkoren, basiert einzig auf ästhetisches Empfinden des Herrn Blumenbach. Und alle bis heute in Umlauf gebrachten entwürdigenden Theorien einer hierarchisch gegliederten Rassengesellschaft, enttarnen sich im Moment der Entdeckung einer göttlichen Harmonie im Antlitz eines skelettierten Schädels einer Kaukaserin.

Nicolas Hartsoeker, Darstellung der Präformation 1694 Eine Idee des im Spermium bereits präformierten Embryos, durch Ausstülpung gebildet
Kaukasisch gerasst. Von Herrn Blumenbach selektiert, 5 Schädel aus 800 Bewerbungen. Im Zentrum; die „Königin der Rassen“ eine Georgierin kaukasischer Herkunft.

Noch vor diesen neuzeitlichen Wissenschaften, ist die Idee von der Kartographierung des Bösen verbunden mit der Hoffnung, dieses Negativum an einem bestimmten Ort des Körpers zu entdecken oder den gesamten Körper als Falsch zu bestimmen. Besonders in der christlichen Tradition, markieren körperliche Merkmale bestimmte Eigenschaften des bösen Wesens. Darstellungen von Dämonen in den Bildern der Passionsgeschichte und des Jüngsten Gerichts, lassen den Menschen erahnen, welch unentschiedener Kampf Gott und Teufel führen, um die Menschheit auf ihren Weg ins Licht oder vom Weg hinab ins Dunckel zu führen. Wir müssen nur die Zeichen des Heiligen in der Vorsehung unserer Religionen erkennen und entschlüsseln um den Verrat zu enttarnen und dürfen nicht an den Gesten Gottes zweifeln. Die Wissenschaft kann helfen besser zu sehen, kann aber auch missdeuten. Gegenüber den festen Vorstellungen vom Wert des Menschen im Glauben und in den Systemen ideologischer Diktaturen, sollten wir Misstrauisch bleiben und besonders aufmerksam Hinhören, besser noch: laut Gegenfragen.
Die Weltgerichtsdarstellung des Matthäus, veranschaulicht besonders aktiv die endzeitliche Scheidung der Guten von den Bösen. In den Illustrationen der Apokalypse, eignen sich besonders Teufels- und Dämonendarstellungen als didaktisch-moralischer Zweck, den Gläubigen zu guter christlicher Lebensführung zu motivieren. Aber auch der Koran möchte seine Gläubigen zu guten Taten anstiften. „Der jüngste Tag wird kommen und Gott wird richten“. Entweder als ewige Strafe oder als Anreiz, sich rechtmäßig zu verhalten. Das Angebot steht, einem Platz in den Gärten des Paradieses freizuhalten. Nur in der Formsprache der Weissagungen gehen beide Religionen verschiedene Wege. Das Christentum bebildert lieber anschaulich und klar den Prozess der Selektion. Der Islam hingegen beschreibt blumig und überzeugt im Geiste durch starke Bilder die beiden endgültigen Wege des Urteils.
In der Hölle, jedenfalls in den Bildern des Christentums, sind die Körper der Verdammten entstellt und lassen durch ihre Versehrtheit auf die Verfehlungen im Leben schließen. Interessant auch, dass körperliche Defekte im Leben zum Ausschluss vom Priesteramt wegen Unreinheit führten. Blinde, Lahme und eine zu große oder zu kleine oder verstümmelte Nase, eine gebrochene Hand, entstellende Krankheiten, Krätze, Flechten, Flecke, führten dazu, an der göttlichen Reinheit des Bewerbers zu zweifeln. In den Passionsbildern entfaltet sich daher ein breites Spektrum der Darstellung von Versehrtheit an den Körpern von Verrätern, Dieben, Mördern, Prostituierten, Peinigern und Henkern. Auch hier findet sich eine klare Kernaussage: Körperliche Unversehrtheit und Schönheit sind moralisch gut – körperliche Defekte, Verletzungen und Hässlichkeit sind unrein und böse.

Das Böse

In den Zeiten Lombrosos und den aufbegehren der Wissenschaft im Einklang mit dem moralischen Werten des Glaubens, erweiterte sich die Darstellung des Bösen im fotografischen Akt. Das Böse musste nicht mehr erdacht und gemalt werden, die Wirklichkeit selbst, das Foto, bewies in klarer Deutlichkeit die Machenschaften des Teufels und seiner Kumpanei. Fotoarchive überführter Verbrecher und psychisch kranker Patienten wurden angelegt. Beweise körperlicher Verfehlungen bestimmt und mit der Hoffnung gedeutet, dass Verbrecher durch Demaskierung äußerlicher Merkmale vom zukünftigen Verbrechen abgehalten werden könnten. Um diese Vision zu realisieren, mussten tausende Bilder archiviert, Körper vermessen und ausgewertet werden. Es bedarf eines Herkules um das Chaos zu meistern um die überbordende Sammelwut zu bändigen. Cesare Lombroso jedenfalls blühte auf, in dieser Welt der Deutungen. Mit seiner Kriminalanthropologie beschleunigte er die Verbrecherjagd und verfeinerte die Methoden der Verfolgung aber seine Statistik des Bösen, urteilte oft zu schnell und falsch. Unschuldige wurden bestraft und bei kleinster Unregelmäßigkeit des Äußeren aus der Gesellschaft verbannt. L. sah überall Zeichen des Verfalls, konnte aber nicht aufhören zu sammeln. Rastlos formulierte er theoretische Ansätze als Ketten logischer Beweisführungen, die jedoch oft genug aporetisch endeten. Er wurde zum Gefangenen seiner eigenen Theoreme, verurteilt, immer wieder von neuem die Evidenz der Abweichung zu beschwören.

Diebe haben im Allgemeinen sehr bewegliche Gesichtszüge und Hände;
ihr Auge ist klein, unruhig, oft schielend; die Brauen gefaltet und stoßen zusammen;
die Nase ist krumm oder stumpf, der Bart spärlich, das Haar seltener dicht,
die Stirn fast immer klein und fliehend, das Ohr oft henkelförmig abstehend …

Die Mörder haben einen glasigen, eisigen, starren Blick,
ihr Auge ist bisweilen blutunterlaufen. Die Nase ist groß, oft eine Adler-
oder vielmehr Habichtsnase; die Kiefer starkknochig, die Ohren lang,
die Wangen breit, die Haare gekräuselt, voll und dunkel, der Bart oft spärlich;
die Lippen dünn, die Eckzähne groß.

Im Allgemeinen sind bei Verbrechern von Geburt die Ohren henkelförmig,
die Stirnhöhlen gewölbt, die Kinnlade enorm, das Kinn viereckig oder vorragend,
die Backenknochen breit, – kurz ein mongolischer und bisweilen negerähnlicher Typus vorhanden.
Herr Lombroso 1894

Exakte Bemaßung des Bösen….Maße… 202cm, Künstler. Zu sehen sind vier Maßkisten ermittelter Größen von Brandstiftern (1,71 m), Mördern (1,70 m), Dieben und Einbrechern (1,69 m) sowie Vergewaltigern und Fälschern (1,65 - 1,66 m). Jörg Herold Kaukasisch gerasst. 2007

Herr L. war überzeugt von seiner Sprache der Wahrheit und dem letztendlichen Erfolg seiner Methode, dass er sich selbst mit Haut und Haar der Sammlung seines Museums vermachte. Noch in hundert Jahren wird sein Skelett, sein Hirn und sein Gesicht der Wissenschaft profundes Beispiel der Menschheit für eine „Persona grata“ sein.

In Italien forderten im Jahr 2010 die Nachkommen von Personen, deren Schädel in Lombrosos umfangreicher Schädel-Sammlung in Turin ausgestellt sind, deren Rückgabe und würdige Bestattung. Herr L. jedoch wird wohl noch lange auf so eine Forderung warten müssen. Zu klar sind seine Anweisungen an die Nachwelt.

Die „Kaukasische Rasse“ – Irrungen und Wirrungen einer Identifikation – zur Nachlese der Empfindungen des Herrn Blumenbach
„… Erst in der kaukasischen Rasse kommt der Geist zur absoluten Einheit mit sich selber, erst hier tritt der Geist in vollkommenen Gegensatz gegen die Natürlichkeit, erfasst er sich in seiner absoluten Selbständigkeit, entreißt er sich dem Herüber- und Hinüberschwanken von einem Extrem zum anderen, gelangt zur Selbstbestimmung, zur Entwicklung seiner selbst und bringt dadurch die Weltgeschichte hervor. …“
G.W.F. Hegel

Vor über zweihundert Jahren beschrieb der Forscher Johann Friedrich Blumenbach den Schädel einer mit Mitte 20 verstorbenen Georgierin als den „schönsten und vollkommensten” seiner 850 Stück umfassenden, Weltweit zusammengetragenen Sammlung – und bestimmte ihn zur Krönung der menschlichen-, der „Kaukasischen Rasse“. Rasse, hier gemeint als Aufdeckung einer konstanten Vergangenheit und noch nicht der als der später missbrauchte Begriff des politischen Handelns. Blumenbach war der Erste, der Schädel als Hülle des höchsten Geistesorgans des Menschen mit dem Blick eines Anthropologen begutachtete und daraus Schlussfolgerungen über die umweltbedingte Gestaltung der Menschheit ableitete. Hier fand er Anhaltspunkte, um fünf verschiedene Stämme – den kaukasischen, äthiopischen, mongolischen, amerikanischen und malaiischen zu unterscheiden. Dabei ordnete er dem Klima bzw. der Ernährung großen Einfluss auf die Entwicklung nationaler Eigenheiten zu, die die Gesichtsstruktur in ihrer “anziehendsten Gestaltung” bestimmten.
„Schönheit“ im Sinne „göttlicher“ Werke griechischer Kunst war Maß allen Urteils. Nun begegnet Herr Blumenbach in seinem Laboratorium seiner Göttin: „Der Kopf einer jungen Georgierin, welche im neulichen Türkenkriege von den Russen gefangen genommen, und nach Moskau gebracht wurde, wo der dortige würdige Professor der Anatomie, Herr Hiltebrandt, da sie sehr plötzlich starb, die Ursache ihres Todes in einer gesetzmäßigen Sektion ex officio untersuchte. Er bewahrte den knöchernen Kopf wegen seiner ungemein eleganten Form sorgfältig auf, und schickte ihn Herrn Baron Asch nach Petersburg“.
Ihm nun, widmete er seine ganze Liebe, reiste mit ihm durch deutsche Landen, traf sich mit Gelehrten wie Goethe, der an Schiller schrieb: „Blumenbach war auch bei mir, er hatte einen sehr interessanten Mumienkopf bei sich.“ oder Lichtenberg, der am gleichen Abend nach dem Besuch des Herrn Professor in einem Brief an ihm tiefen Einblick in die Welt seiner Sinnesgelüste zugab: „Aber der Mumien Kopf wie herrlich! Gehörte er mir, wahrlich ich ließe ein Postament dazu machen und stellte ihn auf meinen Schreibtisch, und vor mein Bette“. Blumenbach hielt Vorträge, schrieb Bücher und brachte so unbewusst, eine Reiselawine ins Wunderland der Phantasie ins Rollen. Denn wo Schönheit ihr Heim hat, ist Reichtum, ist Erlösung vom irdischen Leid in Sicht. Nichts weniger musste am Ziel, dem Puls Gottes, dem Zentrum der Weisheit, erreicht werden. Fortan machten sich Scharen von Expeditionen auf den Weg in den Kaukasus, auf der Suche nach Wissen, Reinheit und um den Ursprung Europas zu rühmen. Geologen forschten an den wilden Grenzen des Ostens, dem Ende der Zivilisation. Die Höhe der Berge und Lage der Bodenschätze wurden bestimmt, Pfade kartographiert, die noch weiter in die Wildnis führten, aber im Nichts endeten. Anthropologen notierten detailliert die Größe menschlicher Gliedmaßen und Schädel aller Stämme und Völker, sammelten alles, was sie bewegen konnten und transportierten es in die jubelnde Heimat. Hier verklärte sich schnell der Blick auf das Ursprüngliche, die Schönheit der Wildnis, das Paradies des Himmels auf Erden. So erhielt das Bild mythische Züge, wie die Vorstellung, dieses Bergland sei die Urheimat der Indoeuropäer, ja der Weißen, der „Kaukasischen Rasse“ insgesamt.
Für die Wissenschaft zu Hause hieß es nun, alle Informationen zu bearbeiten und zu bewerten. Große Zahlen-, Masse- und Mengenwerte wurden in Grafiken und Tabellen gepresst, um einen schnellen Überblick der Abweichungen zu erhalten. Interpretationen der Diagramme spalteten jedoch die Forscher. Irrungen und Wirrungen begleiteten die täglichen Diskussionen. Mehr Informationen mussten erfragt werden, um Klarheit einer Identifikation zu schaffen. Es reichte nicht aus, sich mit dem Schädelindex und Gesichtswinkel zu befassen – zu Rate gezogen werden sollte die menschliche Gesamtausstattung – auch Haarstruktur, Augen- und Hautfarbe, Geruch, Lippen- und Brauenschwung, Nasenform, Mineralisierung des Knochengewebes, Blutgruppe, Physiologie, Prognathie.
In weiteren Jahrzehnten, verzweigten sich Fachbereiche und spalteten sich weiter und weiter auf. Was hieß, dass sich die Merkmale der Rassen von ursprünglich bis zu dreihundert auf siebzehn und die der sogenannten Unterrassen auf einundzwanzig einpegelten. Im Wahn der Sammelleidenschaften blieb den Forschern jedoch keine Zeit zur Interpretation. Daten gelangten auf den freien Markt, wo sie nur zu gern von Theoretikern aufgegriffen und für politische Zwecke missbraucht wurden. Mahnend schrieb in dieser Zeit der französische Anthropologe Georges Vacher de Lapouge die prophetischen Worte: „Ich bin überzeugt, dass man sich im 20. Jh. nach Millionen schlachten wird, wegen ein oder zwei Graden mehr oder weniger Schädelindex. An diesem Zeichen, das das biblische Schiboleth und die Sprachverwandtschaft ersetzen wird, werden sich die verwandten Rassen erkennen und die letzten Sentimentalen werden gewaltige Ausrottungen von Völkern erleben“.

Nachdem das Ideal der „Nur-Schönheit“ des Anfängers Blumenbach nicht mehr ausreichte, um Antwort auf „Rassenunterschiede“ geben zu können, wurde der Blick der Einen Welt auf den Rest präzisiert und aus der Masse von Ballast meißelte sich eine anmaßende Elite ihren Herrenmenschen. In ihrer Staatsform der Rassenideologie verwerteten später die Nationalsozialisten des Dritten Reiches menschenverachtend die Vorlagen der Wissenschaft. Allein das sich kräuselnde Haar eines Menschen reichte aus, um ihn als unrein zu desavouieren. Der Begriff Rasse wurde zu einem wesentlichen Bestandteil einer rückwärtsgewandten Ordnung, welcher die Funktion besaß, eine heroische Nationalgeschichte zu konstituieren. Man „entdeckte“ die Geschichte des Antagonismus wieder, welcher Jahrhunderte zwischen Volksgruppen herrschte, die zusammen lebten, sich aber nie vermischt hatten. Diese Ansicht war düster und konnte nur durch die Wissenschaft selber gestoppt werden. Rudolf Virchow, die Instanz deutscher Forschung des 19. Jahrhunderts, wollte schon 1886 dem Rassenmythos ein für alle Mal durch Statistik widersprechen, sowie jede Diskussion darüber beenden. Er schlug vor, alle Schädelformen der Deutschen zu speichern. Seine neugegründete „Deutsche Anthropologische Gesellschaft“ begann mit Hilfe der Lehrer, die Unterschiede zwischen jüdischen und christlichen Schulkindern zu untersuchen. Schließlich waren 760 000 Kinder nach Augen, Haar und Hautfarbe überprüft. Ergebnis war, dass die Deutschen nirgendwo eine rassische Einheit bildeten und dass blaue Augen und blonde Haare überhaupt nicht vorherrschend waren. Virchows Behauptung, dass es keine reinen Rassen gibt, wurde in beträchtlichen Umfang bestätigt. Leider, wie die Geschichte zeigt, umsonst. Kaum aber ist das Dritte Reich begraben und die Diktatur des Stalinismus beendet, keimt heute wieder die Diskussion der Rassenfrage. So schrieb 2005 Walerij Solowej, ein Historiker und Mitglied der ultraliberalen Gorbatschow-Stiftung, in einem Vorwort zum 665 Seiten schweren Werk Rasologija [Rassenkunde]: „Die Menschheit tritt in eine neue Epoche ein; die von Aufklärung und Moderne mit Hilfe wohlklingender Schlagwörter wie ‚Demokratie’, ‚Gleichheit’, ‚Fortschritt’ und ‚Menschenrechte’ geschaffene Welt wird allmählich Bestandteil einer Vergangenheit, die niemals wiederkehren wird. Zusammen mit dieser Welt müssen auch die wissenschaftlichen Konzepte und der intellektuelle Ballast, der zu ihr gehörte, von der Bühne abtreten. An die Stelle all dessen wird eine Welt treten, die auf Blut und Boden, Stärke und Hierarchie beruht und die eine neue Theorie und neue Konzepte benötigen wird.“ Solch begleitende Worte in einem Buch, welches angeblich angeborene Unterschiede des Menschen kolportiert, das den Rassentheoretikern der Nazis gebührende Anerkennung erweist und unzweideutig die These von der Ungleichheit der Rassen vertritt. Eine Fibel, die offen verkäuflich in russischen Buchhandlungen zum Bestseller avanciert.
Unendlich scheint die Geschichte des „Rassenmysterium“ zu sein, die manchen Geist bis heut umwölkt. Varianten des Rassenwahn erneuern sich und Stereotypen in Sammelbecken – Ideologien werden solange wiederholt, bis sie zu Wahrheiten mutieren. Tief muss der Wille des Menschen sein, Hierarchien aus der Masse der Menschheit zu etablieren. So wird es wohl immer wieder Zirkel selbsternannter Eliten geben, die sich anmaßen, über die „Reinheit“ der Menschheit zu bestimmen.

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