zum Inhalt springen

Zeugnisfunktion als Beweis

1977 durchforsteten Larry Sultan und Mike Mandel tausende von Fotografien in den Archiven der Bechtel Corporation, des Beverly Hills Police Department, der Jet Propulsion Laboratories, des U.S. Department of the Interior, des Stanford Research Institute und ein paar Dutzend anderer Firmen, Verwaltungen und Bildungsinstitutionen. Sie waren auf der Suche nach Fotografien, die als möglichst „objektive Dokumente“ fotografiert und eingesetzt worden waren. Schließlich wählten sie eine Reihe von Fotografien aus und druckten sie mit einer großen Sorgfalt, wie sie damals nur bei Kunstdrucken üblich war, in limitierter Auflage und mit dem einfachen Titel Evidence, der Beweis, auf dem Umschlag.

Das Konzept ihres Projektes war klar: Sie wollten sogenannte einfache, „beweisende“ Dokumentarfotografien zeigen und durch die Auswahl und die Präsentation die Betrachter des Buches verunsichern, sie zweifeln lassen an den scheinbar so klaren, einfachen visuellen Belegen. Die New York Times nannte es eine „befremdliche, sachliche und mitunter erschütternde Vision einer post-industriellen Welt“, die sich in diesem Projekt zeige. Das Projekt Evidence gilt heute als ein Markstein der konzeptuellen Kunst, der Appropriation Art. Es stellt die Frage nach dem Original und nach der Autorschaft früh und scharf. Gleichzeitig öffnet es, durch das Weglassen jeglicher textlicher Verortung, den Blick für die Struktur und Poesie der Bilder an sich. Wir sind als Betrachter gefordert, diesen wundersam-seltsamen Artefakten, diesen kontextfreien Bildern eine eigene Bedeutung zu verleihen.

Larry Sultan und Mike Mandel „befremdliche, sachliche und mitunter erschütternde Vision einer post-industriellen Welt“ Betriebsinterne Dokumentation, von Herrn S. und Herrn M. als Beweis 1977ausgewählt

Bildwahrheiten Bildwirklichkeit

Der Hund verschwunden im Spiegel. Das Symbol der Treue entschwunden. Beweisfoto des Herrn van Eyck, Hochzeit des Herrn Arnolfini 1434 Herr Eyck ist hier gewesen

1434 malte der Maler Jan van Eyck ein Doppelportrait das im heutigen musealen Kontext als Arnolfini-Hochzeit betitelt wird. Trotz Fragezeichen nach der Betitelung, ist sich die Wissenschaft einig, eine Vermählungsszene des reichen Kaufmanns Arnolfini zu bestaunen. Es ist wohl eines der bekanntesten und am meisten reproduzierten Kunstwerke der Welt. Aufgrund seiner Schönheit und Ikonographie nebst Erweiterung des Bildraums unter Verwendung eines Spiegels, gilt es als eines der komplexesten Gemälde der Kunstgeschichte. Ernst Gombrich zufolge war es revolutionär. Und Erwin Panofsky beschrieb es als einzigartige Form des Ehevertrags, welches als Gemälde aufgezeichnet wurde. Die Arnolfini Hochzeit entstand zu einer Zeit, in der nicht alle Künstler ihre Werke signierten, aber hier hatte van Eyck seinen Namen schwungvoll eigepasst. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde der Künstler im wahrsten Sinne des Wortes zum perfekten Augenzeugen.
Die Signatur des Malers befindet sich über dem gewölbten Spiegel. Aber der Maler wich hier von seiner üblichen Formulierung ab: Er hatte nicht Johannes de Eyck fecit (= hat gemacht), sondern Johannes de Eyck fuit hic (= war hier) notiert. Es sieht so aus, als war Herr E. unmittelbarer Zeuge der Hochzeit. Dadurch erhielt das Gemälde eine Art juristische Funktion. Es wurde zum Beleg und damit zum verbindlichen Dokument der Heirat. Aber können wir dieser justiziellen Aussage vorbehaltlos trauen? Können wir dem Künstler trauen? Wir wissen; „Es gibt keine historische Bildwahrheit, es gibt (nur) die historische Interpretation“. Was nichts anderes heißt; die Kunst verfälscht die Wirklichkeit und nur der Eingeweihte erkennt die Wahrheit. Heißt; Kenne ich den Auftraggeber der Motive, sage ich Dir was Du siehst. Online bleibt die Schönheit der Kunst. Offline die Wahrheit. Letztendlich aber ist alles Lüge.

Nicht anders verhält es sich mit der Fotografie. Zu Beginn als fälschungssicheres Format gefeiert, ist ihre Ehrlichkeit über die Jahre in Verruf gekommen. Zu schön war die Vorstellung, Zeit als Moment der Wahrheit zu konservieren. Ein würdiger Vertreter der Zeitzeugenschaft. Aber das Lügen kursierte schon immer als „anthropologische Konstante“ und umso angepasster tritt sie in Erscheinung, wenn sie sich neuer technischer Möglichkeiten bedienen kann. Heute misstrauen wir allem an der Fotografie; dem Inhalt soundso aber auch dem Hintergrund, dem Ort, der Zeit, der Gesten, Posen und Formate. Thomas Bernhard zufolge verwandelt die Fotografie das Dargestellte in Hosentaschenformat-große-Abbilder und sind so „ungeheuerliche Naturverfälschungen“.

Letztendlich Schluss mit der Glaubwürdigkeit von Bildern ist, als Kriege einer visuellen Propaganda bedurften, um Verständnis für den Waffengang zu postulieren.
Das Vertrauen in die Zeugenschaft wurde also schnell verspielt. Heute benötigen wir mindestens einen, besser mehrere vereidigte Kronzeugen, um die Wahrheit der Bilder zu belegen. Aber selbst dann kann unser Bauchgefühl einen Missbrauch nicht ausschließen.

Die Symbolik des Arnolfini-Gemäldes jedenfalls, ist ohne profunden Kommentar nicht zu decodieren. Symbolik und Ikonografie vergangener Jahrhunderte, haben wir verlernt zu lesen. Alleine, dass der Bräutigam seiner Braut die linke Hand reicht, zeigt, dass die Dame von geringerem Stand als der Herr ist. Es handelt sich also um eine ungleiche Ehe. Uns heute egal, aber im 15.Jahrhundert ein bedeutsamer Makel. Vielleicht deshalb die unübliche Signatur des Künstlers? Wer so präzise die Wirklichkeit abbilden konnte, kann nicht lügen. Eine Anfechtung der Ehe also ausgeschlossen.

„fabula docet“ die Fabel lehrt – „Wie die wahre Welt einst zur Fabel wurde,
hat auch der Mensch seine Fabelhaftigkeit längst offenbart“ Herr Nietzsche

Kontakt zu
Jörg Herold